Abreise | Münchner Jakobsweg | Marktoberdorf – Vohburg
Meine Erkältung entwickelt sich prächtig weiter. Heute Nacht kam zu meinen bisherigen Erkältungssymptomen der Husten hinzu. Außerdem war es mir in der Nacht kalt. Das verheißt nichts Gutes. Die Aussicht auf drei Tage Dauerregen ist nicht gerade prickelnd. Also berief ich noch vor dem Frühstück eine Krisensitzung ein. Nach einigem Hin und Her stand die Entscheidung fest: Bevor ich zu einem Totalausfall werde, brechen wir hier und jetzt ab und fahren mit dem Zug statt nach Kempten Richtung München und von dort aus weiter nach Hause.
Im gestrigen Gespräch mit Elfie erfuhren wir, dass sie und ihr Mann Erhard – zwei eingefleischte Jakobspilger – jeweils „nur“ zwei Wochen am Stück gepilgert sind. Diese überschaubare Zeitspanne war sehr tröstlich für mich. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass der Abbruch nach gerademal 16 Tagen Pilgerschaft ein Ausdruck des Versagens ist. Geplant und gewünscht war, es bis nach Lindau am Bodensee zu schaffen. Und jetzt brachen wir ab. Traurig. Manchmal muss man aber eben umdisponieren. Das Positive: Unsere Erlebnisse und Erfahrungen gehen nicht verloren, wir nehmen sie mit nach Hause. Und wer weiß, was daraus noch wird?
Bevor wir unsere Siebensachen zusammenpackten, frühstückten wir in der freundlich eingerichteten und vor allem sauberen Gemeinschaftsküche. Ein frisches Baguette wartete bereits auf dem Tisch auf uns. Andere Zutaten fanden wir im Kühlschrank, wie uns Elfie gestern informiert hatte. Nach dem Frühstück spülten wir unser Geschirr ab und hinterließen die Küche so sauber, wie wir sie vorgefunden hatten.
Als wir – bereit aufzubrechen – unser Zimmer verließen, trafen wir im Flur auf eine von zwei Wanderinnen, die gestern wenig später nach uns in der Herberge angekommen waren. Sie erzählte uns, dass ihre Freundin des Wetters wegen abbreche und sie selber den Zug nach Kempten nehme, um dort zwei bis drei Tage lang auf ein besseres Wetter zu warten. So, so. Wie man sieht, geht es anderen Leuten nicht viel besser als uns. Schlechtes Wetter kann einem oder einer das Wandern mächtig vermasseln.
Die Verabschiedung von den Herbergseltern gestaltete sich genauso herzlich wie der Empfang gestern. Ein kleiner Plausch, ein Erinnerungsfoto und leider die Information, dass wir gesundheitsbedingt nach Hause fahren und gleich den Bahnhof ansteuern werden.
Während wir so auf der Terrasse in ihrem Garten standen, erblickte ich auf dem Meilenstein mit der Ausschrift „Santiago de Compostela 2400 km“ eine Schnecke. Sie schlich den Stein langsam hoch. Anscheinend wollte sie auch nach Santiago und hatte wahrlich nicht sehr weit, ganze 10 cm bis zur Aufschrift. Buen camino!
Am Marktoberdorfer Bahnhof angekommen, setzten wir uns nach dem Kauf des Bayerntickets in den Warteraum. Bis zur Abfahrt hatten wir noch 30-40 Minuten Zeit und so meditierten wir vor uns hin. Plötzlich betrat ein älterer Herr den Warteraum und steuerte auf uns zu. Es war der Erhard, der Herbergsvater! Was macht er hier? Kurz danach holte er Dominiks rotes Kuschelherzchen hervor und fragte, ob wir es mit Absicht im Zimmer zurückgelassen hätten.
Vor Jahren bekamen meine Kinder jeweils ein rotes Kuschelherzchen von mir zum Valentinstag geschenkt. Das Herzchen von Domi musste mit auf jede Reise! Nun lief Dominik rot an und war so perplex, dass er kein Wort rausbrachte. Wie konnte es bloß passieren, dass er sein geliebtes Herzchen nicht eingepackt hatte? Was war geschehen?! Erhard erklärte uns, dass es anscheinend unbemerkt hinters Bett gerutscht sein musste. Ich bedankte mich sehr herzlich für diese Rettungsaktion und das Herbringen. Gut, dass Erhard wusste, wo wir zu finden waren. Ansonsten hätte er das Herzchen per Post nach Hause geschickt, erklärte er uns. Wären wir weiter gepilgert, hätte Erhard nicht versucht uns einzuholen und der Dominik hätte das Herzchen auf dem weiteren Weg schmerzlich vermisst. Ende gut, alles gut!
Im Zug war es recht voll, sodass es für uns nur noch Plätze auf den wenig gepolsterten, aufklappbaren Reservesitzen gab. Besser als nichts. Unsere Rucksäcke verstauten wir unter den Sitzen. Wir mussten uns echt dünn machen, wenn andere an uns vorbei wollten. Als eine junge Dame mit einem Koffer am Dominik vorbei musste, machte der Zug einen Ruck und sie quetschte mit ihrem Koffer beinahe meinen Sohn zusammen. Wenig später kippte ein anderer Koffer auf ihn um. Er wurde während der Zugfahrt wahrlich von Koffern traktiert.
Ich meinerseits hatte auch ein bisschen Action. Ein älterer Herr, der neben mir ebenso auf einem Klappsitz Platz genommen hatte, stand kurz auf, und als er sich wieder hinsetzen wollte, hatte er nicht auf dem Schirm, dass sich sein Sitz zwischenzeitlich zusammengeklappt hatte. Ich griff kurzerhand nach dem Herrn, klappte seinen Sitz auf und platzierte ihn sicher darauf. Puh, gerade noch Glück gehabt! Um ein Haar hätte mein Sitznachbar die Bekanntschaft mit dem Boden gemacht.
Am Münchner Hauptbahnhof stiegen wir in den Zug Richtung Ingolstadt um. Mein Mann Alfred holte uns vom Bahnhof in Rohrbach mit dem Auto ab. Im Auto duftete es herrlich nach Brot, welches mein Mann auf dem Weg zu uns beim Bäcker gekauft hatte. In manchen Kulturen gibt es die Tradition, Gäste mit Brot und Salz zu empfangen. Und so scherzte ich, dass auch wir mit Brot empfangen wurden.
Zu Hause angekommen, machte Alfred uns erst einmal ein Foto, wie wir durch die Gartentür reinkommen. Danach ging es für mich unter die Dusche und rein in die frischen Klamotten. Währenddessen kochte mein Mann etwas zu Mittag. Es gab wahnsinnig viel zu erzählen. Vor allem war ich diejenige, die fortwährend und ohne Punkt und Komma vom Jakobsweg berichtete. Kann es sein, dass mich das Jakobswegvirus doch noch befallen hat und das trotz meiner immer wiederkehrenden Zweifel und Gejammer?
Abends beim Auspacken des Rucksacks spürte ich, wie alle Strapazen von mir abfallen. Ich wurde wehmütig, die Tränen kamen. Der Abbruch kam so plötzlich, dass ich es kaum fassen konnte, wieder Zuhause zu sein. Ein komisches Gefühl, Freude und Trauer zugleich. Oder war es eine zart erwachende Sehnsucht nach dem Camino?
Nächstes Jahr geht es weiter! Das steht fest!



Der Tag danach
Als ich heute Nacht zwischendurch mal aufwachte, musste ich mich erst einmal kurz orientieren. Es war unfassbar: Ich lag in meinem eigenen Bett! Die Entscheidung, abzubrechen kam so plötzlich, dass ich mich an den Gedanken, wieder daheim zu sein, erst gewöhnen muss.
Heute Nacht hatte ich einen Albtraum: Mein Pilgertagebuch ist vertauscht worden! Meine gesamten Notizen waren somit weg! Stattdessen fand ich ein anderes Tagebuch mit Texten und Zeichnungen, die aus der Hand eines jungen Mannes stammten. Sein Land befand sich im Bürgerkrieg. Der Verfasser beschrieb in seinem Tagebuch die Schönheit seines Landes und fertigte detailgetreue Zeichnungen der architektonischen Kunstschätze seiner Heimat an, bevor diese der Zerstörung zum Opfer fallen. Wie schockiert muss er gewesen sein, nachdem er den Verlust seines Tagebuches entdeckt hatte! Statt seines Werkes hielt er das Reisetagebuch einer Jakobspilgerin in seinen Händen! Nicht gerade der beste Tausch.
Zum Glück habe ich es nur geträumt. Mein Pilgertagebuch ist da, wo es sein soll und bildet nebst den vielen Fotos vom Jakobsweg die inhaltliche Basis dieses Blogs. Und auch der junge Mann aus meinem Traum wird wohl mit Erleichterung aufgeatmet haben, sein Tagebuch wieder in den Händen zu halten. Bei diesem Gedanken musste ich grinsen.
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